Mein Großvater
Mein Großvater saß einst als junger Mann im Achtuhrzug von York nach London, als ihm während des Zwischenhalts in Doncaster die Titelseite des Sheffield Telegraph ins Auge stach, weil darauf das Konterfei eines Mannes prangte, den er gut kannte. Da ließ er sofort das Waggonfenster herunter und winkte den Burschen herbei, der das Blatt feilbot, kaufte ihm ein Exemplar ab, und noch ehe er wieder richtig saß, hatte er schon fasziniert zu lesen begonnen. Der Zug hatte dann schon wieder Fahrt aufgenommen, als meinem Großvater ein Ausruf des Erstaunens entfuhr. Von seiner Lektüre in Bann genommen, wurde er nun erst gewahr, dass er nicht länger allein im Abteil saß, dass er dieses jetzt mit einem gepflegten älteren Herr teilte, der in der Ecke schräg gegenüber saß und ihn anstarrte.
Da fühlte sich mein Großvater bemüßigt zu erklären: „Eben lese ich hier, dass einer den ich kenne, gestern seine Frau erschossen hat. Wir nahmen seinerzeit auf der Militärakademie gemeinsam an einem Waffenkurs teil. In der Unterkunft schlief er in einem Stockbett direkt über mir. Beim Anblick des Fotos, hier auf der ersten Seite, habe ich ihn sofort wiedererkannt. Und was ich hier lese, trifft auch genau auf ihn zu. Er ist der größte Waffennarr, den man sich nur vorstellen kann. Er war damals schon regelrecht besessen von Handfeuerwaffen. Aber dass er deswegen eines Tages zum Mörder werden würde! Unglaublich!“
Als der Fremde nur nickte, sah sich mein Großvater veranlasst, sich diesem vorzustellen und zu erwähnen, dass er in York zuhause sei. Daraufhin nannte der Andere auch seinen Namen, der aus seinem Mund keineswegs ausländisch klang, jedoch das Folgende, das sprach er mit leicht fremdem Akzent: „Meine Frau hat vor Jahren auch einen Mord begangen, aber sie hat ihre Strafe schon längst verbüßt. Sobald sie freigekommen war, habe ich sie geheiratet, denn ich hatte all die Jahre auf sie gewartet. Ich wollte dann nicht länger in Mitteleuropa leben, sondern zog nach England und wir ließen uns in den Midlands nieder; hier weiß niemand über unsere Vergangenheit Bescheid.“
Natürlich spitzte mein Großvater da die Ohren; behutsam versuchte er alsdann, seinem Mitreisenden das eine oder andere Detail zu entlocken. Zunächst schien es dem distinguierten Herrn aber peinlich zu sein, Einzelheiten preiszugeben. Wegen der Erwähnung des Mordberichts in der Zeitung, hatte er sich wohl einfach nur vorschnell verplappert. Doch das beharrliche Interesse seines jugendlichen Gegenübers, schien ihm allmählich zu schmeicheln beginnen, denn zögerlich fing er damit an, auf die eine oder andere Frage einzugehen. Im weiteren Verlauf begann er dann sogar von sich aus Dinge darzulegen, um alles ins rechte Licht zu rücken, bis schließlich sein Bedürfnis die Oberhand gewann, aus seiner Anonymität heraus einem jungen Unbekannten von seinem Schicksal haarklein zu berichten.